Mega Manga Lesefest
31. März 2011 1 Kommentar
Anmerkungen zur Leipziger Buchmesse 2011
Ausgerechnet in der Frankfurter Allgemeinen, ausgerechnet in dem Blatt, das die Literatur wie kein zweites pflegt, und den Fehler vom vergangenen Jahr, der Leipziger Buchmesse zu entsagen, längst bitter bereut, ausgerechnet in der Effazet bilanzierte ein Autor: Störfall? Nicht die Bohne: Die Buchmesse irritiert durch Phlegma.
Titel, Text und Tenor des Beitrags sind dem Zeitgeist geschuldet. Angesichts der dreifachen Tragödie in Japan – schwerstes Erdbeben, schwerster Tsunami, schwerste nukleare Havarie des Jahrhunderts (wie die Abstufungen und Zeitrechnungen bei solchen Ereignissen geflissentlich lauten) – verengte sich offenbar der Blickwinkel des Autors auf ein Sujet, das der Weltgemengenlage entsprechen könnte, was ja auch wieder verständlich ist.
Indessen hat die Leipziger Buchmesse 2011 das Geschehen in Fernost nicht negiert. Jedoch auch nicht die einfachere Variante gewählt, an Buchständen mit einer flugs zusammentelefonierten Expertenrunde der Medien liebste Eigenschaft zu zelebrieren: mit einer Talkschau ein Weltereignis auf Deutschland herunter zu dimmen. Nein. So nicht. Jedoch auf eine der Buchmesse durchaus angemessene Weise: Da las an drei Tagen in drei verschiedenen Literatur-Cafés ein Autor aus einem Buch, in dem er zwei Dutzend Reportagen versammelt hat, Reportagen aus Kriegs-, Krisen und Katastrophengebieten. Eine davon handelte von Tschernobyl und der Hilfe, die 25 Jahre nach dem GAU im Block 4 des Atomreaktors am 26. April 1986 noch immer geleistet wird: Erst waren es zehn, dann dreißig, fünfzig, schließlich vielleicht siebzig Messegäste, die zuhörten und einmal sogar bat einer darum, mehr zu erfahren – die Katastrophe von Japan war über den in diesen Tagen oft gewählten Umweg Tschernobyl in Leipzig angekommen.
Mangas knallhart und schussbereit… hprfoto
Nicht nur dort. In Halle 2, in der sich das Bildungsbürgertum tummelt, die Lehrer, Lehrinstitute, Lehrverlage, aber vor allem Japan und die japanische Kultur präsent war mit dem Stand der deutsch-japanischen Gesellschaft, in Halle 2 traf sich, wer über den Tellerrand der gewöhnlichen Buchmesse hinaus schauen mochte auf das, was in den Köpfen der jungen Leute vor geht und auf das, was möglicherweise kommt: Die Leipziger Buchmesse nämlich ist das Mekka der Animé-Kids, der Kost(üme)-players, aber vor allem des Manga – der japanische Comic ist für die Jahrgänge 1998 bis etwa 1992 mehr als Striche auf einem Blatt Papier: Manga ist Mythos und Realität zugleich. Früh haben die Leipziger den variantenreich bunt kostümierten Phantasiegestalten und den ernsten (aber stets freundlichen) Mimen des Wave-Gothic einen Platz gegeben – und damit die Buchmesse einem in manchen Augen vielleicht „schrägen“, aber vielseitig kulturell interessierten Publikum geöffnet; die Dreizehn- bis Neunzehnjährigen fallen auf, fast möchte man sagen: sie fallen über die Messe her, aber dass sie da sind, ist trotz der atemberaubenden Enge am Samstag ein Gewinn – längst sind sie Markenzeichen der kommenden Generation, die den Hosenanzug für Damen und den Zweireiher des Geschäftsmannes heute noch belächelt, aber in wenigen Jahren darin daher kommt und bestimmen wird, was geht und nicht geht, auch auf einer Buchmesse.
Lesekultur ist eben nicht nur ein ruhiger Platz mit einem Buch, sondern lediglich eine Gattung der Kultur, die sich in Leipzig in ihrer vielfältigsten Weise präsentiert: als traditionelle Buchkunst, als verwegene Zeichenart im Comic – der Manga-Zeichner und Chronist des verseuchten Hiroshimas Keiji Nakazawa etwa als ihr Meister –; als Literaturbühne für 1500 Autoren, die während der Messe lasen und die das ganz besondere Flair der Leipziger Buchmesse ausmachen: Leipzig liest, in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal. Im Gegensatz zur Buchmesse in Frankfurt im Herbst, der Bühne der Verleger, ist Leipzig im Frühjahr Treffpunkt der Autoren. Das ist seine Stärke. Frankfurt ist glatt, fertig, wirkt wie ein gestärktes weißes Hemd, hingegen ist Leipzig rau, stets etwas zerknautscht, aber unverwechselbar.
Und noch etwas macht den Unterschied aus: In Frankfurt sind die feinen Adressen und noblen Hotels Eingangs- und Ausgangsdrehtür für den Büchermarkt. In Leipzig lesen Autoren in der Stadt, im Studententreff MB (Moritzbastei), im Haus des Buches, an wohl dreihundert Orten – und das stets vor großem Publikum, das im Schneidersitz auf dem Boden geduldig ausharrt. Dass ein kostenpflichtiger Diafilm mit Lesung des Naturforschers Andreas Kieling fast siebenhundert Zuhörer am „Gottschalk“-Sonnabend in einem Saal versammelte, mag ein Indiz für das sein, was Leipzig ausmacht: Autoren zum Anfassen. Wiederum ein Journalist aus der Banken- und Messemetropole am Main sagte dazu: „Da könnte Frankfurt noch etwas lernen“.
Was ihr auf Dauer nicht gut tun wird, konnte die Leipziger Buchmesse auch 2011 nicht vermeiden: die Rekorde: Die meisten Aussteller (2.150); die größte Bruttofläche (67.000 qm) in vier Hallen und dem ausgedehnten Glaskomplex); die meisten Besucher (163.000) – das sind zwar Wirtschaftsdaten, doch ein Literarisches Messefest braucht auch diese. Bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an den Österreicher Martin Pollack des, wie man heute sagt: „Events“ an der Pleiße, wurde hingegen deutlich was eine Buchmesse ausmacht: Verstehen und Verständnis, Buch und Bildung, der immerwährende Versuch Kultur: Das Leid der Menschen, der Juden, Polen, Ukrainer, um nur einige zu nennen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, dem Vergessen zu entreißen, der Gleichgültigkeit zu opponieren, das mache Pollacks richtungweisendes CEuvre aus, heißt es in der Laudatio; seine Werke versammelten höchste literarische Ansprüche. Den Bogen vom Hier zum Gestern und zurück nach vorn schlug bei der Gelegenheit Leipzigs Oberbürgermeister Burghard Jung auf seine Weise: Er las aus Christa Wolfs Tschernobyl-Buch Störfall.
Wie lange werden die Sieger des Leipziger Buchpreises im Gedächtnis haften bleiben? In der Kategorie Belletristik ist das Clemens J. Seitz mit dem Titel Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes; zu dem der andere Clemens, der Leipziger Autor und Preisträger 2008, Clemens Mayer, lobend aber ebenso lakonisch wie auf seine Weise spitzbübisch burschikos anmerkte: Gutes Buch, tolle Messe. Bald schon bringt jemand ein Bier. In der Kategorie Übersetzung erhielt den Preis Barbara Conrad für ihre fulminante Übersetzung von Krieg und Frieden aus dem Russischen; schließlich Henning Ritter, der langjährige Leiter des Ressorts Geisteswissenschaften im Feuilleton der F.A.Z. in der Kategorie Sachbuch/Essayistik für seine Notizhefte. Darin heißt es an einer Stelle: Die Verwertung der Popularität, des Ruhms zu Lebenszeit, ist heute so groß, dass für den Nachruhm nichts mehr bleibt (Seite 294). Treffender ist der flüchtige Zeitgeist kaum je notiert worden.
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